»Feindliche Aktionen im Keim ersticken«
Im September 1989 überschlugen sich in der DDR die Ereignisse. Bis Ende des Monats flüchteten 33 255 Bürgerinnen und Bürger in den Westen. Fast 12 000 reisten legal aus. In der Leipziger Nikolaikirche versammelten sich die Teilnehmer von Friedensgebeten zu den Montagsdemonstrationen. Die Zahlen wuchsen im September rasch an. Am 18. war von hunderten Teilnehmern die Rede. Am 25. demonstrierten bis 8 000 Menschen für Reisefreiheit und demokratische Rechte. Der Schreck saß der Parteiführung in den Knochen. Honecker befahl einen Tag später die Herstellung der Arbeitsbereitschaft der Bezirkseinsatzleitungen. Diese Gremien, auf Kreis- und Bezirksebene, waren für den Kriegsfall und für den Fall innerer Unruhen gedacht. Ab 1. Oktober wurden Flüchtlinge aus Warschau und Prag über das Territorium der DDR in verriegelten Zügen in die Bundesrepublik abgeschoben. Am 2. Oktober gingen in Leipzig 20 000 Menschen auf die Straße. Wie eine Warnung klang da die ND-Überschrift »In den Kämpfen unserer Zeit stehen DDR und China Seite an Seite«. Trotzdem sprang der Aufruhr auch auf andere Städte über. In Plauen und in Dresden gab es Polizeieinsätze gegen Demonstranten. Umtausch der Parteidokumente Wer Ende September 1989 die Zeitung aufschlug, sah sich mit einem Paradoxon konfrontiert. Die Lausitzer Rundschau berichtete über Fortschritte bei der Lösung der Wohnungsfrage und über die guten Taten der Cottbuser Werktätigen zum 40. Jahrestag der DDR. Nur auf der zweiten Seite fand der Leser Kommentare und »Sprechererklärungen« wie »Belogen und Betrogen«, »In der falschen Spur« oder »Anwerbung der DDR-Bürger ist Sklavenhandel«. Den Inhalt dieser Beiträge konnte nur verstehen, wer am Vorabend im »Westfernsehen« die Berichte über Botschaftsflüchtlinge und Demonstrationen in DDR-Städten gesehen hatte. Nach hinten los ging auch die Aktion »Umtausch der SED-Parteidokumente«. Der Wechsel der Parteibücher diente der Inventur der Mitgliedschaft und sollte auch den Charakter einer Säuberung haben. Geplant war, »dass mit dem Umtausch der Parteidokumente ein spürbarer Kraftzuwachs erreicht wird, ein kräftiger Ruck die Parteireihen erfasst.« Das Gegenteil wurde erreicht. Die zu dieser Aktion gehörenden persönlichen Gespräche zeigten umgekehrt, dass auch innerhalb der SED Veränderungen grundlegender Art erwartet wurden. In den Cottbuser Betrieben, im Bahnwerk, im RAW oder bei POCO sprach man im September offene Worte. Und so geriet der Dokumentenumtausch, der für die Disziplinierung der Mitglieder gedacht war, unerwartet zum Alarmruf. Die Kreisleitung Cottbus-Stadt reagierte zunächst mit Parteiverfahren für die aufmüpfigen Genossen. Einsichten und Selbstkritik spürte man an keiner Stelle. Schuld an Flüchtlingen und Demonstrationen »sind die antisozialistischen und konterrevolutionären Aktivitäten des Klassengegners«. Auch der Rat der Stadt zeigte Mitte September, zumindest öffentlich, noch keine Anzeichen von Nachdenklichkeit. Die Stadtverordnetenversammlung vom 14. September lief nach eingeübtem Ritual ab. Die Regieanweisungen für den Tagungsleiter waren bis zum letzten Wort vorformuliert: »Gibt es Gegenstimmen? – Ich stelle Einstimmigkeit fest. «Im Haus der Bauarbeiter und in der ganzen Stadt ahnte aber noch niemand, dass es die letzte Beratung des Stadtparlaments war, die nach altem Muster ablief. Falsche Beurteilung der Lage Noch ein Blick ins Zentrum der bröckelnden Macht: Jeweils am Dienstag trat in Berlin das Politbüro zusammen. Das Gremium war de facto Regierung und Parlament der DDR zugleich. Festlegungen, die dort getroffen wurden, nannten Insider ehrfurchtsvoll »PB-Beschlüsse«. Das Durchschnittsalter der Truppe betrug 1989 67 Jahre. Mitte September kehrte Erich Honecker nach einem Genesungsurlaub an seinen Arbeitsplatz zurück und übernahm die Leitung der Geschäfte. Am 22. September verlangte er in einem Telegramm von den ersten Bezirkssekretären nach den Leipziger Demonstrationen, »dass feindliche Aktionen im Keim erstickt werden müssen«. Werner Walde, der 1. Sekretär der Cottbuser Bezirksleitung, war seit 1976 Kandidat des Politbüros. In der letzten von Honecker geleiteten Politbüro-Sitzung, am 10. Oktober, erklärt der Parteisekretär, »dass es in Cottbus keine solche Konfrontation geben wird.« Und: »Die politische Lage ist stabil!« Falsche Einschätzung: Bis zur ersten großen Cottbuser Demonstration waren es nur noch drei Wochen. Honecker verlas seine Rücktrittserklärung am 18. Oktober. Da blieben Walde noch 20 Tage.