Der letzte Tag der Republik

- Vor 30 Jahren -
Ehrenmedaille 40 Jahre DDR aus eigenem Bestand.Foto: Lew.

Ehrenmedaille 40 Jahre DDR aus eigenem Bestand.Foto: Lew.

»Wahr ist, dass Randalierer, aufgeputschte Störer und kriminelle Elemente staatsfeindliche Parolen riefen und die im Ordnungseinsatz befindlichen Volkspolizisten tätlich angriffen.« Das stand in der von der Lausitzer Rundschau am 11. Oktober 1989 abgedruckten Mitteilung der Presseabteilung des DDR-Innenministeriums zu den »Störungen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit« in „mehreren Städten der DDR«. Da war der 40. Jahrestag der DDR, der letzte Tag der Republik, inzwischen Geschichte. In den Tagen vor dem missglückten Jubiläum hatte sich die Parteiführung konsequent der Erkenntnis der Wirklichkeit verweigert. Auf die ungarische Grenzöffnung war mit der Aussetzung des visafreien Reiseverkehrs geantwortet worden. Den neuen gesellschaftlichen Kräften, die sich im September zu Wort meldeten, dem Neuen Forum und dem Demokratischen Aufbruch, wurde die kalte Schulter gezeigt. Honecker orientierte darauf, politische Proteste im »Keim zu ersticken«. Das erwies sich jedoch als weitere Illusion. Als am 2. Oktober in Leipzig 20?000 Demonstranten auf der Straße waren, ahnte man wohl auch in Teilen der Führung, dass dieser Bewegung nicht mit polizeilichen Mitteln beizukommen war. Nun galt es, das Gesicht zu wahren und den ausländischen Jubiläumsgästen beim »Tag der Republik« in Berlin und in den Bezirken eine halbwegs heile Welt vorzuführen.

Ordensregen auch in Cottbus


Während in Berlin die Jubelfeiern von Demonstrationen für Demokratie und Reisefreiheit getrübt wurden, blieb im Kohle- und Energiezentrum der Protest noch in privaten Räumen, in Kirchen und Gartenlokalen. Aber auch in Cottbus nahmen im Herbst 1989 die Versorgungsprobleme weiter zu. Es fehlte an Bettwäsche, Kinderkleidung und Diätwaren.  Batterien, Reifen und Trabant-Ersatzteile blieben Mangelware. Die Fluchtwelle hatte zu Engpässe im Krankenhaus und im Handel geführt. Diese Lücken hätten die Cottbuser möglicherweise leichter ertragen, wenn es nicht ständige Berichte gegeben hätte, nach denen »gesteigert« und »vervollkommnet« würde. Dem verbreiteten Unmut begegnete die Führung am Vorabend des 40. Jahrestages mit einer massiven Ordensflut. In Berlin regnete es Karl-Marx-Orden, Vaterländische Verdienstorden und Nationalpreise. In Cottbus gab es zahlreiche Banner der Arbeit, den Verdienten Aktivist und die Verdienstmedaille der DDR. Breit gestreut war die »Ehrenmedaille 40 Jahre DDR«. Die Festveranstaltung der Lausitzmetropole fand im Theater statt. Bei den Gästen aus den Partnerstädten fehlte ausgerechnet das russische Lipezk. Die Tageszeitung berichtete von der Verleihung der Ehrenbürgerschaft an Gertrud Nolte, die frühere Stellvertreterin des OB, und den Abgeordneten Günter Finn. Nichts erfuhren die Cottbuser davon, dass es einen dritten Kandidaten für diese höchste Auszeichnung der Stadt gab. Walter Schupp, der als Unternehmer und später als Stadtverordneter den Aufbau von Cottbus nach dem Krieg wesentlich mitbestimmte, nahm die Ehrenbürgerschaft nicht an.

Was Gorbi wirklich sagte

Als gäbe es die politischen Veränderungen in der Sowjetunion und in Polen nicht, als verließen nicht täglich Menschen die DDR, fanden die Cottbuser in den Medien eine Jubelstimmung, die mit dem wirklichen Leben nicht übereinstimmte: »Cottbus legt Festkleid an«, »Wo Geborgenheit blüht« oder »Friedensstaat DDR genießt international hohe Anerkennung«. Auf die Protestdemonstrationen und die »Gorbi«-Rufe während der Feiern zum Jahrestag antwortete die Lausitzer Rundschau am 10. Oktober mit dem Beitrag: »Bürger aller Klassen und Schichten empört über Störenfriede«. Da wusste man in den Redaktionsstuben schon, dass in Leipzig am Vortag 100?000 »Störenfriede« demonstriert hatten, die auch »Bürger aller Klassen und Schichten« waren.
Heute, dreißig Jahre nach dem letzten Republikgeburtstag, sehen wir täglich Bilder dieser Tage. Die Deutungshoheit über die dramatischen Ereignisse liegt meist nicht bei den ehemaligen Akteuren. Das weltberühmte Gorbatschow-Zitat wird allzu häufig aus dem Zusammenhang gerissen. Der sowjetische Generalsekretär verlangte eine neue Atmosphäre für die sozialistische Ordnung. »Ich halte es für sehr wichtig, den Zeitpunkt nicht zu verpassen und keine Chance zu vertun. Die Partei muss ihre eigene Auffassung haben, ihr eigenes Herantreten vorschlagen. Wenn wir zurückbleiben, bestraft uns das Leben sofort.« Das traf dann auch auf den Sowjetführer selbst zu.
Von Cornelia Jahr, Sabine Bürger und der ersten Demonstration in Cottbus erzählen wir in der nächsten Woche.


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