Ausreisewelle, Botschaftsflüchtlinge und keine Tränen

- Vor 30 Jahren -
Sommer 1989 - Erregte Diskussionen im Cottbuser RAW. Foto: Erich Schutt

Sommer 1989 - Erregte Diskussionen im Cottbuser RAW. Foto: Erich Schutt

Während des gesamten Zeitraums der Existenz der DDR war das Thema »Republikflucht«, später »Ausreisewelle« oder „illegale Ausreise“ genannt, das eigentliche Hauptproblem. Vor 1961 verließen 2,8 Millionen Menschen das Land. Schulen, Krankenhäuser und Betriebe standen immer wieder vor existenzbedrohenden Situationen. Mit dem Mauerbau stabilisierte sich die wirtschaftliche Lage. Der »Antifaschistische Schutzwall« blieb aber knapp drei Jahrzehnte eine offene Wunde für die DDR-Führung. Die massivste Propaganda konnte nicht davon überzeugen, dass die Mauer zum Schutz vor äußeren Feinden gebaut war. Von West nach Ost war jenes Bauwerk durchlässig. Und da Rentnern aus der DDR Westreisen gestattet wurden, lag der Hauptgrund für die Grenzanlagen auf der Hand: Die arbeitsfähige Bevölkerung war im Land eingesperrt. Mit den Urlaubsländern CSSR, Ungarn, Rumänien und Bulgarien gab es Vereinbarungen über die Rückführung jener DDR-Bürger, die von dort in den Westen fliehen wollten. Diese höchst unbefriedigende Situation hatte zwei Seiten. Zum einen konnte die DDR-Führung weder eine liberale Reisereglung bezahlen, noch konnte sie eine massive Abwanderung der Arbeitskräfte wagen. Andererseits war der Zustand des Eingesperrtseins in der Welt nach den Helsinki-Abmachungen und eines lebhaften Informationsaustausches nicht auf Dauer aufrechtzuerhalten. Daran konnten auch noch so viele Goldmedaillen und Kosmonauten nichts ändern. »Ständige Ausreise aus der DDR« Ende der Achtziger wuchs die Zahl der Antragsteller auf „Ständige Ausreise aus der DDR“. In Cottbus musste man dazu bei der Abteilung Inneres beim Rat der Stadt in der August-Bebel-Straße vorsprechen. Es folgten mehr oder weniger lange Wartezeiten. Die »rechtswidrigen Übersiedlungsersucher« mussten berufliche Nachteile in Kauf nehmen. Schüler der Cottbuser Erweiterten Oberschulen, deren Eltern Ausreiseanträge gestellt hatten, wurden relegiert, also vom Abitur ausgeschlossen. Das Ministerium für Staatssicherheit analysierte die Gründe für das Anschwellen der Ausreiseanträge: »Die überwiegende Anzahl dieser Personen wertet Probleme und Mängel in der gesellschaftlichen Entwicklung vor allem im persönlichen Umfeld, in den persönlichen Lebensbedingungen und bezogen auf die sogenannten täglichen Unzulänglichkeiten im wesentlichen negativ und kommt davon ausgehend, insbesondere durch Vergleiche mit den Verhältnissen in der BRD und in West-Berlin, zu einer negativen Beurteilung der Entwicklung der DDR.« Als Hauptfluchtursachen wurden die schlechte Versorgung, die Mängel in der medizinischen Betreuung und die fehlenden Reisemöglichkeiten genannt. Soweit die Erkenntnisse der Staatssicherheit. Die Versuche, das Land auf diesem Wege zu verlassen, nahmen dann im Sommer 1989 stark zu. Ermutigt wurden die Menschen auch durch Ereignisse bei den östlichen Nachbarn. In der Sowjetunion setzte Gorbatschow das Streikrecht durch. In Polen standen Parlamentswahlen an, bei denen die Gewerkschaft Solidarnosc als gleichberechtigter Partner auftrat. In Budapest bereiteten Reformer gar die Rehabilitierung des hingerichteten Imre Nagy vor. Das große Schweigen In China demonstrierten Studenten im Frühjahr gegen die politische Alleinherrschaft der kommunistischen Partei. Die Volksbefreiungsarmee schlug den Aufstand nieder. Die DDR-Volkskammer erklärte, dass sich die »Volksmacht« gezwungen gesehen hätte, »Ordnung und Sicherheit unter Einsatz bewaffneter Kräfte wiederherzustellen.« Dagegen regte sich in Cottbus Widerstand. Im Namen der Umweltgruppe Cottbus protestierte Peter Model beim CDU-Vorsitzenden Gerald Götting: »Wir hätten von Ihrer Fraktion eine eindeutige Ablehnung gewaltsamer Mittel erwartet.« Das waren im Juni 1989 mutige Sätze. Antworten gab es nicht. In der Cottbuser Stadthalle traf sich an jedem letzten Mittwoch im Monat das sogenannte Parteiaktiv. Hier erwarteten Parteisekretäre, Propagandisten und Betriebsleiter Antworten auf die immer drängenderen Fragen der Menschen. Warum wird trotz sichtbarer Probleme die Jubelpropaganda fortgesetzt, wird »gesteigert«, »entwickelt« und »erhöht«? Was sollte man zu den Ereignissen in den »Bruderländern« sagen? Die polnische Solidarnosc war in der Stadthalle vor kurzem noch als »konterrevolutionäre Bande« und der polnische Papst als »katholischer Verbrecher« bezeichnet worden. Jetzt blieben die Antworten aus. Das große Schweigen begann. Und der August brachte neuen Ärger. Von den Botschaftsflüchtlingen und den nicht geweinten Tränen erzählen wir beim nächsten Mal.


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