Birgit Branczeisz

Dresden: Erste freie Wahlen werden privat gefeiert

Dresden. Frauen und Männer der ersten Stunde nach der Wende erinnern in privater Runde an die ersten freien Wahlen – ein makaberes Schauspiel für Dresden.
Stadträte der ersten Stunde: In der Reihe unten v.l.: Dr. Helfried Reuther, Evelyn Müller, Dr. Herbert Wagner. In der oberen Reihe v.l.: Dietmar Haßler, Jürgen Eckhold, Klaus-Dieter Rentsch, Dr. Jürgen Olbricht, Dr. Georg Böhme-Korn.

Stadträte der ersten Stunde: In der Reihe unten v.l.: Dr. Helfried Reuther, Evelyn Müller, Dr. Herbert Wagner. In der oberen Reihe v.l.: Dietmar Haßler, Jürgen Eckhold, Klaus-Dieter Rentsch, Dr. Jürgen Olbricht, Dr. Georg Böhme-Korn.

Bild: Branczeisz

Dresden. Weder der Stadt Dresden noch einer Partei im Stadtrat war der 35. Jahrestag der ersten freien Kommunalwahlen 1990 eine offizielle Erinnerung wert. In einer Zeit, in der jeder Anlass herbeigeredet wird, wenn er nur ins Bild passt – in dieser »Zeitenwende« haben die Menschen ihre Wurzeln vielfach vergessen oder tun sie ab. Dietmar Haßler, früher Geschäftfsührer der CDU und Organisator aller Wahlkämpfe für die CDU von 1990 bis 2017 – immerhin über 30 – wollte das nicht auf sich beruhen lassen. Er organisierte eine private Feier im »Platzhirsch« am Kulturpalast. »Das sind die Männer und Frauen, die 1990 die Wegbereiter waren, dass wir hier sitzen«, sagte er. Haßler selbst, über 20 Jahre Stadtrat, ist 1999 ausgeschieden. Eine »ganz tolle Truppe« war das. Zehn ehemalige Stadträte sind es über die Jahre, die sich einmal im Quartal am Stammtisch im »Platzhirsch« treffen. Erst donnerstags parallel zum Stadtrat, dann auch an anderen Tagen. Die Runde der »ASR« (Alte Stadträte) mag manchem als illustrer Kreis mit ebensolchen Anekdoten erscheinen – die alten Stadträte haben aber mehr Schneid als mancher junge und ihre Histörchen machen  eher nachdenklich. Die erste freie Kommunalwahl zur Stadtverordnetenversammlung Dresden war ein historischer Moment. Dass u.a. der frühere Oberbürgermeister Dr. Herbert Wagner selbst daran erinnern muss, ist makaber. Die kleinen Präsente und die Urkunden, die Haßler den Stadträten übergibt, sind eine wertvolle Geste. Das Foto mit denen, die zur Feier kommen konnten, dokumentiert: »Wir sind uns treu geblieben. Und wo seid ihr?« 

Dr. Helfried Reuther erinnert an jene Momente: Die Volkskammer hatte gerade die neue Kommunalverfassung für die DDR aufgestellt. Damit war es zum ersten Mal möglich, eine Stadtverordnetenversammlung frei wählen zu können. Das hieß echte Gestaltung – keine Kandidaten der nationalen Front bestätigen. Auf dem Stimmzettel standen damals u.a. CDU, PDS, Bund Freier Demokraten, Neues Forum, Volkssolidarität, Demokratischer Aufbruch und Bündnis 90 – die sich schließlich mit den Grünen zusammengetan haben. Heute wissen viele von den Grünen gar nicht mehr, was das Bündnis 90 überhaupt war. Es gab die Deutsche Forumspartei, die DSU, die Nelken, den Unabhängigen Frauenverbund – 130 Stadtverordnete wurden gewählt.   Die Fraktion Demokratische Union hatte 51 Mitglieder – damals im Bündnis mit dem Demokratischen Aufbruch  und dem Demokratischen Forum. Heute sitzen 13 CDU-Stadträte im 71 Personen starken Gremium Stadtrat. Nicht nur das hat sich geändert. Haßler witzelt: 1990 war es günstig, »Wagner« zu heißen oder einen »Dr.« zu haben. Nach der Wahl saßen fünfmal Wagner im Stadtrat und es gab 43 Doktoren. Dazu drei Pastoren. Außerdem war der Querschnitt repräsentativer als heute: Haufrauen, Wissenschaftler, Lehrer, Architekten, Ärzte, Ingenieure und Professoren diskutierten – aber keine Berufspolitiker, niemand, der von der Stadtratstätigkeit gelebt hat. Jeder hatte eine Arbeit mitten im Leben. Der Stadtrat hatte dennoch ein  immenses Pensum. In einer Zeit der Euphorie, mit dem Willen und dem echten Gefühl, etwas bewegen zu können, war das Ehrensache. Es war fast alles möglich, es gab keine Bedenkenträger, keine Anwälte, die drohen, erzählt Haßler. Die Verhandlungen gingen oft bis spät in die Nacht – alle erinnern sich gut an die Diskussion um die Autobahn nach Prag bis 1.30 Uhr. Das war auch der Grund, warum neue Themen dann nur noch bis 22 Uhr eingebracht werden durften.Sicher, die Probleme waren damals andere – kommt die Müllabfuhr oder nicht z.B., ein funktionierendes Netz fürs Abwasser. Viele Dinge, die sich heute keiner mehr vorstellen kann, aber die elementar waren. Diese Stadträte  haben ihre Kraft und viel Lebenszeit gegeben, um den Aufbruch zu stemmen, auch wenn das viele heutzutage abtun.

 

 

 


Meistgelesen