Uwe Schieferdecker

"Jeden Tag neue Preise"

Dresden. An eine Zeit, als das Wort »Inflation« noch eine ganz andere Bedeutung hatte, erinnert unser Kalenderblatt.

Unsere Groß- und Urgroßeltern durchlitten in ihrem Leben viele Brüche. Sehr traumatisch war für sie die Inflationszeit nach dem Ersten Weltkrieg. Im Verlauf des Jahre 1923 verloren die meisten Dresdner binnen weniger Monate ihr gesamtes Erspartes. Diese Grunderfahrung lastet auch in der Gegenwart auf den Deutschen. Heute lebt wohl keiner mehr, der die Inflation vor einem Jahrhundert noch bewusst erfahren hätte.

Dennoch verfolgen wir die Preissteigerungen hierzulande besonders sorgenvoll. Die Kinder nahmen es dabei 1923 noch auf die leichte Schulter: »Jeden Tag neue Preise, das war schon schwer. Aber so haben wir das Rechnen gelernt!« Ältere erinnerten sich auch Jahrzehnte später an den kalten Schauer, der ihnen über den Rücken jagte, wenn sie die Tageseinnahmen aus dem väterlichen Geschäft in zahlreichen Wäschekörben in die elterliche Wohnung im Obergeschoss tragen mussten.

Viele, viele Milliarden Mark waren das im November 1923 – und zwar in jedem einzelnen Korb. Im Oktober wandten sich die Dresdner Straßenbahnen an die Bevölkerung: »Die Fahrgäste werden dringend ersucht, das Fahrgeld nur in größeren Scheinen abgezählt dem Schaffner zu übergeben, kleine Scheine unter fünf Millionen Mark Wert aber möglichst überhaupt nicht zu verwenden.« Kostete die Einzelfahrt im August 1921 noch eine Mark, stieg der Fahrpreis am 25. November 1923 auf sage und schreibe 200 Milliarden Mark.

In der Folge mussten Linien verkürzt und der Betrieb eingestellt werden. Ausländische Besucher lächelten hingegen – angesichts der für sie günstigen Umtauschkurse – über die Ticketpreise. Manche Städte, wie Köln, Aachen oder Koblenz, führten damals sogar spezielle Ausländertarife ein. Die Geldentwertung betraf natürlich auch die Stadt.

Wenig feierlich öffnete sie im Oktober 1923 das Stadthaus in der Theaterstraße. Es beherbergte fortan die Straßenbahndirektion, die städtische Bücherei und Verwaltungen. Geplant war der Neubau bei Baubeginn mit Kosten von 16 Millionen Mark. Am Ende stiegen die Baukosten zum 1. Oktober 1923 auf 600 Milliarden Mark. Auch wenn der derzeit für die Finanzen zuständige Oberbürgermeister Dirk Hilbert einiges gewöhnt ist, von derartigen Preisexplosionen sind die städtischen Bauvorhaben noch weit entfernt.

Für diese 600 Milliarden Mark hätte der Dresdner allerdings Anfang Dezember beim Bäcker nicht mal mehr ein Vierpfundbrot erhalten! Die Bürger nahmen die steigende Not nicht ohne Gegenwehr hin. Die Reallöhne waren auf 20 Prozent des Vorjahres gesunken. Wohl dem, der überhaupt noch eine Arbeit hatte: Die Arbeitslosigkeit stieg auf 60 Prozent. Sogenannte Teuerungsunruhen prägten das Leben der Stadt über das gesamte Jahr 1923.

Der Chef der Reichsheeresleitung, General von Seeckt, gab im September in einer Erklärung an das sächsische Volk den Demonstranten die Schuld an der wirtschaftlichen Misere. Am 21. Oktober setzte der sozialdemokratische Reichspräsident Friedrich Ebert die hiesige SPD/KPD-Regierung unter Dr. Erich Zeigner kurzerhand ab und ließ die Reichswehr in Sachsen einmarschieren.

Im November 1923 wurde im Rahmen einer Währungsreform die sogenannte Rentenmark eingeführt. Damit endete im damaligen Deutschen Reich das düstere Kapitel der Inflation, bevor ein Jahrzehnt später ein neues, noch düstereres Kapitel begann.

Zur Person: Dr. Uwe Schieferdecker ist Jahrgang 1959, in Leipzig geboren und Buchautor vieler Dresdner Stadt-Anekdoten und stadtgeschichtlichen Abhandlungen. Er arbeitet zudem als Stadtplaner.


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