»Ich sage nicht Neues«
Fast bis zum letzten Platz ist der Ratssaal besetzt, als Oberbürgermeister Roland Dantz den Gast und das Publikum begrüßt. »Ich sage eigentlich nicht Neues in dem Buch«, so Oschmann. Er sei zu ihm wie die Jungfrau zum Kinde gekommen. Mittlerweile ist der Bestseller in der 16. Auflage erschienen. Der Zeitpunkt der Veröffentlichung 30 Jahre nach der Wiedervereinigung war gut gewählt. Denn in der Geschichte sei es oft so, dass nach 30 bis 40 Jahren Tabubrüche möglich und Dinge sagbar werden.
Westdeutsche Perspektiven
In seinem Buch, aus dem Dirk Oschmann mehrere Abschnitte liest, geht es im Kern um die stereotypen Vorurteile und Typisierungen der Ostdeutschen durch westdeutsche Eliten. In der Regel kommen Ostdeutsche nicht vor oder werden belehrt, so Oschmann. Es geht um Ost-Identität und um die Tatsache, dass Jahrzehnte nach dem Mauerfall der Westen noch immer als Norm, und der Osten als Abweichung beschrieben wird. Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und nicht zuletzt die (Leit-)Medien werden dominiert aus westdeutschen Perspektiven.
Professor Oschmann gibt zu, dass der Ton der Ost-West-Auseinandersetzung unversöhnlich und scharf sei. Aber ohne diese Schärfe hätte man ihn kaum wahrgenommen. Ostdeutsche seien signifikant in ihren Lebenschancen beschnitten. Die Aufgabe der Demokratie sei es jedoch, allen Menschen gleiche Chancen zu bieten, nicht jedoch, eine Gleichheit herbeizureden. Es sei nach Dirk Oschmanns Meinung nicht mehr nötig, einen Ostbeauftragten in der Bundesregierung zu haben. Besser sei ein Minister für Chancengleichheit.
Oschmanns Erstleserin des Manuskripts war seine Frau, wie er erzählt. Und die sagte nach der Lektüre: »Wenn das rauskommt, brauchen wir Polizeischutz«. Soweit ist es jedoch nicht gekommen. Obwohl es Anfeindungen nach Erscheinen des Buches und nach Lesungen gegeben habe. So wurde ihm beispielsweise schon gesagt: »Das Problem wird erst weg sein, wenn Sie tot sind«. Die Entgegnung des Professors für Neuere Deutsche Literatur ist geradezu entwaffnend: »So einfach wird es nicht sein«.
Naivität der Ostdeutschen
Eines von vielen Beispielen, die er anführt, ist die Aufhebung des »Unzucht«-Paragraphen 175 im Jahr 1994 in Deutschland. In der Berichterstattung darüber wird in aller Regel verschwiegen, dass dieser Paragraph in der ehemaligen DDR bereits 1968 gestrichen wurde. Ein anderes Beispiel für Ungleichheit sei das westdeutsche Wirtschaftswunder. Der Osten gilt demgegenüber als rückständig, wobei er aber das 130-fache an Reparationsleistungen aufbringen musste.
Ein besonderes Kapitel des Buches ist Sachsen gewidmet, dem »Osten im Osten«. Dabei seien es zwei Dinge, die eine Rolle spielen. Zum einen Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus, zum anderen die Verächtlichmachung des Dialekts. Letzteres liege nicht unwesentlich an der »Ulbrichtsprache« des einstigen Staatsratsvorsitzenden, ersteres gäbe es auch im Westen, werde aber weniger thematisiert.
Im Anschluss an Vortrag und Lesung lassen sich die Kamenzer auf eine interessante Diskussion mit dem Professor ein und stellen zahlreiche Fragen. Eine interessante Frage, die dabei aufkam, war jene, ob das Ganze nach 1990 nicht zu erwarten gewesen war. Dazu sagt Dirk Oschamann: »Ja, es war zu erwarten, da gab es eine gewisse Naivität der Ostdeutschen«. Besser als der Beitritt zur Bundesrepublik wäre eine Vereinigung nach Paragraph 146 des Grundgesetzes mit gemeinsamer Verfassung gewesen. Daran hatte damals der Westen jedoch kein Interesse.