Birgit Branczeisz/ck

Eine Schule ohne Zensuren

Dresden. Die Technische Universität Dresden probiert gerade in einem Schulversuch aus, ob das System einer Schule ohne Zensuren umsetzbar ist - und vor allem, wie.

Eine Schule ohne Zensuren? Eine Schule, in der die Schüler entscheiden, was sie lernen wollen? Kann das funktionieren? Die TU Dresden testet das. Sie hat eine öffentliche Schule gegründet – einen Schulversuch, in der die Jahrgänge inzwischen bis zur Neun aufgewachsen sind. Die Vision ist, auch noch ein berufliches Gymnasium aufzusetzen.

Ein Besuch vor Ort: Das Gebäude wirkt wahrlich nicht wie eine Eliteschmiede. Es liegt am Ende des Westrings in der Cämmerswalder Straße, inmitten sanierter Platten aus den 80ern. Schulleiterin Maxi Heß nennt das Haus »preußisch« – breite Gänge, Zimmer an Zimmer. »Das passt nicht zu uns«, sagt sie lächelnd.

 

Bisher Zuspruch bis in die Sächsische Schweiz

 

Als sie 2019 die frühere 126. Grundschule als Standort gezeigt bekam, sagt man ihr nur: »Seien Sie froh, dass es nicht reinregnet und halten Sie erstmal ein Jahr durch«. Inzwischen hat die Unischule 700 Schüler und wächst und wächst. Die Kinder kommen nicht nur aus Dresden, sondern auch aus Liebstadt, Glashütte, Bad Gottleuba und Sebnitz. Für 2027 ist nebenan, auf dem Höckendorfer Weg, ein Neubau geplant. An ein dann entkerntes Haus werden einzelne Lernhäuser angesetzt – und das passt, sagt Maxi Heß.

Es geht um selbstbestimmtes Lernen. Die Kinder buchen sich morgens in der Schule mit einem Chip ein und wählen, welches Fachprojekt sie wahrnehmen wollen – zum Beispiel Sprachen, Naturwissenschaften oder Geschichte. Am Anfang steht immer die Schülerfrage: Wer? Wo? Wann? Warum? Wie? So kommt man in die Tiefe. Die Bausteine, die zur jeweiligen Frage gehören, sind vorbereitet, also etwas ausrechnen, historisch einordnen, beschreiben, erklären oder präsentieren. »Wir können nicht mit einem üblichen Lehrbuch arbeiten, denn das folgt der Logik, ich mache mit allen Schülern eines Jahrgangs das gleiche. Aber wir haben ein Thema und betrachten es nach allen Aspekten, jeweils mit drei Jahrgangsstufen«, erklärt Maxi Heß. Im Alltag würde man später schließlich auch nicht nur mit Gleichaltrigen zusammen arbeiten. »Es geht darum, dass die Kinder lange Lernzeiten haben.« In der Grundstufe sind das drei Zeitstunden am Stück, Pausen individuell nach Bedürfnis – in der Mittelstufe Zwei-Stunden- und 1,5-Stunden-Slots. Es gibt keinen Fächerkanon, das heißt, die Kinder packen nicht alle Dreiviertelstunde ihre Sachen zusammen und wechseln die Klassenzimmer. Über lange Phasen eine Lernbegleitung, die in die Tiefe arbeitet – das bringt Ruhe hinein.

 

Lernen von allein möglich?

 

Lernt der Mensch von alleine? Prof. Dr. Anke Langner, die den Schulversuch für die Universität wissenschaftlich begleitet, lacht. »Wir entdecken die Welt nur durch innere Neugier. Das kennen Eltern von kleinen Kindern. In der Schule wird in den ersten vier Monaten dieses Fragen entwöhnt, zu lernen, was Kinder wirklich wollen. Die Kinder lernen stattdessen in kürzester Zeit, Fragen zu stellen, die der Lehrer hören will. Es darf nicht mehr gespielt werden, Spielen ist plötzlich die Belohnung fürs Lernen. Und Lernen tut weh. Das ist genau falsch.« Das Ziel: »Wir wollen, dass Menschen selbst anfangen zu denken, das ist die Idee der Schule. Nicht Geschichtszahlen pauken, was jede Maschine besser kann. Also brauche ich diese Art von Lernen nicht mehr. Wenn wir heute nicht wissen, was auf unsere Kinder in der Zukunft zukommt, aber sehr genau wissen, dass das formale Wissen nicht mehr relevant sein wird, warum machen wir dann so weiter? Was wir brauchen, ist kreatives Team-Denken, Reflektieren, Selbstwirksamkeit – das unterscheidet uns von der Maschine. ICH bin verantwortlich für mein Lernen, nicht meine Eltern und nicht mein Lehrer«, darum geht es. »Und das ist außerdem deutlich humaner als ein selektives Schulsystem.« Doch woher kommt unsere Schule? »Wir wollten im Zeitalter der Industrialisierung Arbeiter«, sagt Prof. Langner, »die schnell an die Maschine gingen und funktionierten. Zunächst durch die Schule mit Drill, und noch heute ist der Frontalunterricht davon übrig geblieben.«

Das Thema Spiel geht an der Unischule in den größeren Jahrgängen nahtlos ins Begreifen über. Mit zwölf bis 13 Jahren sind die Jugendlichen einen Tag in der Woche in einem Betrieb und haben dort echte, eigene Arbeitsaufgaben – also Sinn. Für Schulleiterin Maxi Heß ist das kein Ausflug in die Praxis, die Schüler verstehen so über einen längeren Zeitraum, wer sie sind, was sie können und wollen.

 

Ganz ohne Wertung geht es nicht

 

Zensurenlos heißt aber nicht wertungslos. Es gibt alle sechs bis acht Wochen Zielvereinbarungsgespräche mit jedem Schüler. Die Leistung in den einzelnen Lernbausteinen wird in Prozenten bewertet – und das ist etwas anderes als eine Zensur. Der Noten-Vergleich unter den Schülern fällt weg und damit Missachtung. Die Prozente schauen übers ganze Jahr, wie gut die Lernbausteine umgesetzt wurden. Der Schüler kann selbst entscheiden, ob er ein Thema noch mal anders angehen möchte und so echt lernen. Das typische Klassenarbeit-Szenario auf den letzten Pfiff oder der Ausrutscher, der alles verdirbt und nichts über die echten Lernfortschritte besagt, entfällt.

Und doch gibt es jetzt bald Zensuren für die ersten »Neuner« der Unischule. »Die Schüler freuen sich sogar, zu zeigen, wie gut sie sind«, sagt Maxi Heß. Sie wissen, dass jetzt eine Prüfung nach Regelschule ansteht. Dann wird der verbale Bericht zum ersten Mal durch Ziffern ersetzt. Aber die Kinder wissen ohnehin durch die Prozente, wo sie stehen. Die Umfrage bei Unternehmen, »Stellen Sie aufgrund der Note ein?«, hat ergeben, dass die Unternehmen mit der Beurteilung von Lernfeldern sehr viel mehr anfangen konnten, als nur mit einer Zensur.

 

Von Interesse bis Abneigung

 

Auf Schulleiter-Runden schlägt Maxi Heß Interesse bis Abneigung entgegen. Auch 120 Jahre nach der Reformpädagogik rührt der Ansatz an Grundfesten. Dem beispielsweise, dass der Lehrer kein Lehrer, sondern Lernbegleiter ist. Er muss sich darauf einstellen, dass der Schüler die Frage stellt – nicht er. Das stellt immerhin die Lehrerausbildung auf den Kopf.

Ein Lernen, in dem alle naturwissenschaftlichen Lernbegleiter in einem Lernhaus vereint sind, könnte aber auch eine Antwort auf »Lehrermangel« sein. »Gerade die Landschulen verstehen das«, hat Maxi Heß erfahren. »Wir müssen dafür sorgen, dass die Kinder selbst ins Lernen kommen – alle am Bildschirm vor einen Mathelehrer zu setzen, reicht da nicht.« Denn das ist weiterhin Schule wie früher, nur digital. Dafür müssen sich aber zuerst die Lehrkräfte umstellen. Außerdem müssen Prozesse standardisiert werden – Räume und Abläufe des Lernens.

Dazu gehört etwa auch, dass gemeinsames Frühstück und Mittagessen Pflicht an der Unischule sind. Die Brotbüchse von Zuhause ist tabu. Ein Förderverein hilft, wenn es finanziell bei den Eltern klemmt. Jeder soll seinen Platz im Leben finden – aber niemand soll ausgeschlossen sein. Auch das gehört zur Grundidee der Unischule Dresden.

 


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