Carola Pönisch

Radebeul: Chili con carne jeden 30. April

: "Was vielen nur noch als Relikt aus längst vergangener DDR- Zeit erscheint, wird bei uns in Radebeul, auf der August-Bebel-Straße 19, weiterhin gepflegt", schreibt Klaus Schlegel
Foto: priv.

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Wir sind ein 6-Familien-Haus, in dem sich jeder gegenseitig hilft. Sei es nur das Borgen eines Ei oder von Kartoffeln, geht bei uns die Hilfe viel weiter. Wenn ein Mieter seine Frau mit einem selbstge- kochten Mittagessen überraschen will, dann aber selber zur Spätschicht muss, springt ein anderer Mieter für ihn ein und kocht das Essen fertig. Die Frau ist dann natürlich doppelt überrascht, ob des leckeren Essens und des netten Mieters, den sie gar nicht erwartet hatte. Über die restliche Hilfe decken wir den Mantel des Schweigens. Oder denken wir an die viele Hilfe bei bestimmten Bauvorhaben. Da die meisten Familien in der glücklichen Lage sind, einen kleinen Garten im Grundstück zu bewirtschaften, wird auch dort geholfen. Ein Mieter half dem anderen mit einem Kleinbagger aus, damit dieser die Grube für seinen Pool nicht mit dem Spaten ausheben musste. Bei der Größe des Pools würde er heute noch graben. Der Helfer wurde belohnt mit lebenslangem Baderecht, dass er auch an die nächsten Generationen vererben darf. Auch beim Überdachen der Sitzecken oder Errichten von kleinen Gartenhäuschen steht man nie alleine da. Ebenfalls ist bei uns die Reinigung des Treppenhauses bzw. die Hofordnung Mietersache, wobei man sich gegenseitig unterstützt.  Eine sehr große Unterstützung erfahren die Männer durch die Frauen  im Winter, wenn es heißt: "Antreten zum Schneeschnippen". Der Hof wird freigeschaufelt, es wird nicht gefragt, vor wessen Garage ich gerade schippe, Hauptsache  Fußweg und  Hof sind schneefrei. Die Hilfe der Frauen besteht darin, uns bei dieser kräfteraubenden Arbeit mit diversen Heißgetränken zu unterstützen.  Bei so viel Hilfe untereinander sollte natürlich auch das Feiern nicht zu kurz kommen. An jedem 30. April eines Jahres kochen wir ca. 20 l Chili con carne im Kessel, machen frisches Speckfett und genießen das gute Essen am Lagerfeuer. Am nächsten Tag, dem 1.Mai, gibt es zum Mittag frisch gekochte Erbsensuppe mit Bockwurst und später noch Kaffee und Kuchen. Natürlich muss sich jeder als gelernter DDR-Bürger mit einem Dokument ausweisen. Dass die Suppe im Kessel gekocht wird, ist selbstverständlich. Wir grillen oft zusammen, räuchern Lachs, kochen im Herbst verschiedene Gerichte im Garten, wie Feuerfleisch, Kesselgulasch oder Grützwurst, feiern Geburtstage (nicht nur runde) und begehen auch Jubiläen, wie Silberhochzeit gemeinsam. Wir kümmern uns um die Wohnung und den Garten der anderen, wenn diese im Urlaub sind, machen gemeinsame Fahrradausflüge, verwöhnen die Katze einer Familie, genießen am Vormittag des heiligen Abend noch ein kleines Weihnachtsgetränk und feiern auch gelegentlich Silvester zusammen. Sollte das mal nicht klappen, gibt es auf alle Fälle einen späteren Neujahrsempfang. Gemeinsame Anschaffungen der Hausleute wie Partyzelt, Tischtennisplatte, sowie Wäschetrockner und Gemeinschaftskühlschrank werden auch gerne genutzt. Unbedingt erwähnenswert ist unsere 82-jährige Haus-Security und Paketannahmestelle, auf die wir uns hundertprozentig  verlassen können. Sie nutzt gern das Angebot anderer Mieter, einen kleinen Tagesausflug  zu unseren vietnamesischen Handelspartnern im tschechischen Nachbarland mit abschließendem Abendessen, zu unternehmen. Dies ist ein kleines Dankschön für ihre Fürsorge den arbeitenden Nachbarn gegenüber.   Das soll nur ein kleiner Auszug unserer gemeinsamer Aktivitäten sein, um zu zeigen, dass bei uns die Anonymität  keine Chance hat und auch neu zugezogene Leute in unsere Hausgemeinschaft aufgenommen werden, sofern diese das wollen. Bisher wollte aber fast jeder.  


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