Birgit Branczeisz

Was ist damals passiert?

Dresden. Enkel wollen wissen, wie es ihren Großeltern erging. Noch gibt es den kostenlosen Suchdienst, der helfen kann und manch ungeöffnete Akte.

Als Lara Rading das Armband ihrer Oma sieht, fällt ihr ein Anhänger auf – die Suche beginnt.

Als Lara Rading das Armband ihrer Oma sieht, fällt ihr ein Anhänger auf – die Suche beginnt.

Bild: Henning Schacht

Als Lara Rading das Armband ihrer Oma mit Sternzeichen und Geburtstagen aller Familienangehörigen sieht, fällt ihr ein Anhänger auf: »vermisst im Osten 1944« steht dort. Sie fragt nach, erfährt, dass die Oma ihren Vater nie kennengelernt hat, er seit Mai 1944 als verschollen gilt. 1974 unternehmen Uroma und Oma einen letzten Versuch der offiziellen Suche – wieder keine Gewissheit. Bis Lara 2019 zum DRK-Suchdienst geht, hoffend, durch die geöffneten Archive nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben sich neue Akten gefunden. Schließlich ist es tatsächlich Gewissheit, der Uropa liegt auf einem Lagerfriedhof begraben. Es gibt einen letzten Ort. Einen Schlusspunkt für die Familie nach so langer Zeit.

Noch heute suchen Angehörige über den »Suchdienst 2. Weltkrieg« des DRK. Der sollte zunächst 2023 geschlossen werden, doch ist nun bis 2025 verlängert und gerade wird mit dem Bundesministerium des Innern und für Heimat verhandelt, ihn nochmals bis 2030 zu öffnen. Dann kommen die Akten ins Archiv und es wird ungleich schwerer und vor allem nicht mehr kostenlos möglich, Anfragen zu stellen und zu recherchieren.

Auch Dr. Kai Kranich (42), zuständig für Öffentlichkeitsarbeit beim DRK Sachsen und ausgebildeter Historiker, sucht – und zwar in der Geschichte seiner beiden Großväter. Während der eine dem Enkel von seinen Erlebnissen berichtete, blieb der andere sein Leben lang verschlossen. Auch die Seiten eines leeren Buches – ein Geschenk des Enkels – blieben unbeschrieben.

Die Motive der Suche haben sich geändert. Die nächsten Generationen wollen »das große Schweigen« brechen. Wie im Fall von Kranichs Opa, der mit 16 Jahren zum Arbeitsdienst kam, anschließend gleich zur Grundausbildung und in den Krieg musste. Eine verschwendete Jugend. Was haben diese Menschen erlebt?

Schicksalsklärung heißt das für Claudia Holbe (47), Referentin des DRK-Suchdienstes in Sachsen. Tatsächlich ist das Archiv  über Kriegsgefangene in München nach dem Ende der Sowjetunion noch einmal um viele freigegebene Akten aufgefüllt worden. Vier Seiten pro Person meist, natürlich auf Russisch. Darin steht, was derjenige gemacht hat, ob er krank war, vieles über das Lager, wenn es ein Kriegsgefangener war.

Das DRK hat das Mandat für Kriege und Katstrophen in der Vermisstensuche. Die Personensuche wird auch bei Einsätzen wie im Ahrtal, bei Zugunglücken und anderen gerufen. Für den Klassiker »Ich gehe Zigaretten holen« ist dagegen die Polizei zuständig. Und immer wieder sind es Einzelfälle, die den Suchdienst herausfordern. Kinder von Vertragsarbeitern in der DDR, Schicksale von »Wolfskindern« oder Kinder aus Zwangsadoptionen, die Claudia Holbe an Vereine vermitteln kann, die sich speziell mit einer Gruppe befassen. Neue Kriege und Konflikte haben längst neue Vermisste hervorgebracht. So arbeitet das DRK Sachsen wieder dem Internationalen Roten Kreuz zu, um vermisste Soldaten zu finden – auf TikTok gibt es beispielsweise eine Plattform von russisch-ukrainischen Kriegsgefangenen mit Kurzvideos.

Die meisten Suchan-fragen betreffen heute die Ukraine, Afghanistan, Irak, Somalia und Syrien. 190 Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften arbeiten dafür zusammen. In Sachsen wurden im ersten Halbjahr dieses Jahres 141 Anfragen und Beratungen registriert, 2023 waren es 248. Bundesweit hat der DRK-Suchdienst bereits 1.395 Vermisste neu registriert. Viele Fälle werden erst nach Jahren geklärt.

 


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