

Anfang des Schuljahres wurden die Eltern von Schülern der 11. Klasse am Radeberger Gymnasium darüber informiert, dass zur Abiturprüfung ab diesem Jahrgang das Tafelwerk nicht mehr als Hilfsmittel zugelassen ist, sondern die Formelsammlung des IQB. »Damals habe ich mir nicht viel dabei gedacht«, sagt Silvana Wendt rückblickend. Erst der Anruf eines anderen Vaters ließ sie aufhorchen und die beiden Formelsammlungen genauer anschauen. Bereits der erste Blick war ein Schock. Die Formeln für Mathematik füllen nur noch die Seiten 1 bis 9 – im Tafelwerk geht Mathe bis Seite 68, mit anschaulichen Zeichnungen und Erklärtexten. Einige Formeln stecken zum Teil im Physik-Teil, hat Silvana Wendt festgestellt. Nur über das Verzeichnis sind sie nicht zu finden. »In Chemie sieht‘s ganz böse aus. Da fehlt ganz viel! Sollen die Schüler jetzt die Säure-Basen-Werte auswendig lernen? Oder gibt‘s vor der Abiprüfung noch einen Beipackzettel, wo das draufsteht?«, fragt sich die Langebrückerin, die im Ortschaftsrat ist und selbst unterrichtet.
Nach dem ersten Schreck startete sie im November letzten Jahres eine Petition. 11.565 Unterschriften sind seitdem zusammengekommen und – was für Petitionen ungewöhnlich ist – 3.997 Menschen haben sie kommentiert. Vom Schüler bis zum Professor sind Meinungen nachzulesen. Prof. Frank Roch aus Leipzig schreibt: »Bei Abschlussprüfungen ist jene Formelsammlung zuzulassen, mit der von Beginn an in der Schule geübt wurde.« Und Dr. Karl Heinz Korak, ebenfalls aus Leipzig, meint: »Sachsen hat bereits die höchsten schulischen Anforderungen im Bundesvergleich. Den Schülern ein gewohntes Hilfsmittel zu entziehen, ist extrem ungerecht. Zuerst müssen die Anforderungen angeglichen werden.« Schüler Collin Kramer aus Grünhainichen: »Wir haben seit der 5. Klasse mit dem alten Tafelwerk gearbeitet und sollen uns in so kurzer Zeit jetzt umstellen, was unsinnig ist. Wenn, dann schon von Anfang an mit geändertem Tafelwerk oder mit einem gerechten Vorlauf für uns (Sek.II, 11. Klasse) und Schüler unterer Klassen. Ich bin der Meinung, wenn das IQB-‚Tafelwerk‘ kommt, läuft die Prüfungsvorbereitung auf stumpfes Auswendiglernen heraus. Und das kann auch nicht der richtige Weg sein.« Das sieht auch Doreen Adler aus Dresden so. Sie schreibt: »Das IQB ist ein ‚großartiger‘ Schritt hin zu weiterem sinnlosen Auswendiglernen von naturwissenschaftlichem Stoff. Damit wird keineswegs eine Anhebung des Bildungsniveaus unserer Kinder erreicht.«
Um einheitliche Standards geht es der Kultusministerkonferenz dem Vernehmen nach. Trotzdem macht jedes Bundesland in den Lehrplänen irgendwo doch, was es will. Prüfungsaufgaben sind etwa nicht einheitlich vorgegeben – die Bundesländer können sich aus einem Aufgabenpool bedienen. Der Landeseltern- und der Landesschülerrat Sachsen vermuten daher, dass hier proforma agiert wird und das noch Hals über Kopf. Denn die Schüler sind nicht mit dem neuen Formelwerk großgeworden. Viele nutzen noch das Tafelwerk in der 11. Klasse. Auch die Abi-Vorprüfung wird von den Elfern mit Tafelwerk geschrieben. Aber bei ihrer Abiprüfung müssen sie ohne das alte Tafelwerk klarkommen. Dass das alle schaffen, bezweifelt Silvana Wendt. »Manche bekommen in der Prüfungssituation doch dann Panik!«, sagt sie. Denn es gibt keinen Test mit den neuen Regeln.
Warum das über Generationen erprobte Tafelwerk überhaupt weg muss, konnte niemand erklären. »Das ist wie eine Monstranz, die man vor sich herträgt – seht her, alles ist einheitlich.« Sachsen hat ohnehin mit die höchsten Anforderungen und jetzt noch das. Andere Bundesländer haben das alte Tafelwerk schon verbannt – und hadern damit. Möglicherweise hat Sachsen damit einfach zu lange gewartet und nun muss es plötzlich schnell gehen – zulasten der Schüler. Für die Eltern ist das Grund genug, die Politik noch einmal zum Nachdenken zu bewegen, wie der Übergang gestaltet werden kann.
Eigentlich wollte die Initiative die Petition an Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) übergeben. Zweimal hatten sie um einen Termin gebeten, aber es kam nicht einmal eine Eingangsbestätigung der Mail. Die Eltern haben auch angeboten, die Unterschriften an Christian Hartmann (CDU) zu übergeben, der in Langebrück wohnt. Eine Antwort kam bislang nicht. Nun wollen sie die Petition an die Staatskanzlei schicken – in der Hoffnung, so manchem Schüler ein Prüfungsdesaster zu ersparen.