Birgit Branczeisz

Einfach zu lange abgewartet

Dresden. Prof. Steffen Marx von der TU Dresden fordert einen Paradigmenwechsel hin zum Erhalt von Bauwerken – statt neu zu bauen.

»Wir haben uns viele Jahrzehnte auf dem Bestand ausgeruht und lieber neu gebaut, weil es politisch mehr hermacht, rote Bändchen durchzuschneiden«, sagt Prof. Steffen Marx, der die Einsturzursachen der Carolabrücke dokumentiert. »An der Carolabrücke ist vieles richtig gemacht worden, aber zu spät.« Die Strategie »verschleißen« ist aber die teuerste Art des Bauwerksbetriebs. Das Problem ist laut Marx: »Wir haben in Deutschland gar nicht mehr das Knowhow – weder in der Planung noch im Bau – das schnell wieder umzukehren.«

Für die Carolabrücke steht bislang fest: Der mittlere Zug B ist nicht zu halten. Der Abriss wird also deutlich länger dauern als die angekündigten elf Wochen. Eine Entscheidung zu Zug A soll Anfang Dezember feststehen. Zumindest war Zug A durch Kappen und Asphalt über Jahrzehnte geschützter – ob das allerdings gereicht hat, sollen Schallmessungen zeigen. Aller acht Meter sind Sensoren dafür angebracht.

Lässt sich die Tragstruktur von Zug A noch einmal verstärken? »Ja, man könnte die Zugspannung von außen erhöhen«, so Prof. Marx. Allerdings nur, wenn der Beton nicht zu stark belastet ist – und genau das ist ja das Problem. »So schmal wie möglich« wurde die Brücke damals gebaut. Zum Einen wollte man die Stadtsilouette nicht beeinträchtigen. Zum Anderen war der Spannbetonbau seit den 1960er Jahren in Ost und West eine geniale neuartige Bauweise, die der Aufbauzeit entsprach.

Prof. Marx kann der »schlanken Carola« durchaus etwas abgewinnen und würde einen Eins-zu-Eins-Ersatz befürworten – wenn auch konstruktiv unbedingt nach dem heutigen Stand. Und das nicht nur, weil die Brücke unter Denkmalschutz steht, sondern auch weil ein »Nachbau« am schnellsten gehen würde.

Das sind die Schwachstellen der Brücke

Die Spannglieder:  Sie sind das Herzstück der Brücke, 160 davon gibt es. Sie sorgen für die Vorspannung. Spannglieder liegen tief im Beton – der Beton sorgt dafür, dass die Spannglieder nicht rosten. Zumindest solange kein Wasser eintritt – was passiert ist. Zudem ist der damals hier verwendete Spannstahl sehr hoch vergütet worden, übrigens wie bei vielen Bauwerken der 60er, 70er und 80er Jahre. Das hat die Festigkeit erhöht – zulasten der Elastizität und Empfindlichkeit. Kleinste Roststellen, leicht verbogene Drähte beim Einbau – all das hat für Anrisse gesorgt, die unter Spannung gerostet sind. Das ist bei dieser Bauweise im Osten genauso wie im Westen Deutschlands so.

Der Bruch erfolgte über dem Brückenpfeiler D.  30 bis 40 Prozent der eingebauten Stähle hatten an dieser Stelle bereits eine gravierende Vorschädigung: Zur Hälfte aus »Spannungs-Riss-Korrosion«, also wie beschrieben aus dem Material selbst. Die andere Hälfte aus der »Chlorid-Korrosion«, sprich eindringendes Tausalz. Zu sehen sind Stahl-Enden, die blank sind, neben anderen rostigen Enden – das sind ältere Bruchstellen. Je mehr »Lochfraß« hinzukommt, umso geringer ist die Tragfähigkeit der Brücke.

Das »Riss-vor-Bruch-Kriterium«,  also sichtbare Risse, die auf innere Schäden hindeuten sollen, ist bei den Spannbetonbrücken aus den Anfangsjahren nur in Teilen erkennbar. Das erklärt, warum niemand etwas »gesehen« hat. Die Ingenieure haben aus jedem Brückenfeld Teile entnommen, um zu beurteilen, ob es sich um ein lokales oder generelles Problem handelt.

Die Spann-Anker: Es handelt sich um Drähte im Beton, die zum Schluss mit Hydraulikpressen aus dem Beton gezogen und verankert werden – wie ein Gummiband. Das erhöht die Druckspannung enorm und gilt weltweit als geniale Konstruktion der 60er Jahre. Es handelt sich um die häufigste heute vorkommende Brückenbauart. 80 Prozent der Autobahnbrücken haben solche Spann-Anker, vor allem alle Brücken mit großen Spannbreiten.

Die Schienen-Höcker: Die Schienen wurden fest auf diesen »Steinen« befestigt und nicht im Schotterbett verlegt, wie es heute üblich ist. Durch das starre Aufsetzen der Gleise gehen alle Kräfte unmittelbar auf das Tragwerk – das ist ein großes Problem, weil die Lasten inzwischen ganz andere sind. Der Hintergrund dieser Bauweise war auch hier die Vorgabe einer »schlanken Brücke« – man wollte die Bahn nicht zu hoch auffahren lassen.

Eine weitere Korrosionsart folgt ebenfalls aus der Verlegungsart der Bahngleise: Die Steine wurden mit Dübeln in die Brücke eingebohrt – das ist problematisch, weil die Straßenbahn so stetig für  »Streustrom-Korrosion« im Tragwerk gesorgt hat. 

Die Anforderungen der Konstruktion können über eines jedoch nicht hinwegtäuschen: das politische Versagen der Gesellschaft im Umgang mit der Infrastruktur.

 

 


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