Birgit Branczeisz

Das Ende der sozialistischen Carolabrücke

Dresden. Der schlimmste Fall ist eingetreten - und jetzt sollen auch noch die Erbauer der Brücke die Spannungsrisskorrosion ausgelöst haben. Das sorgt für Widerspruch.

+++++ DIE CAROLABRÜCKE MUSS KOMPLETT ABGERISSEN WERDEN +++++

Die Fraktionen des Stadtrates verschickten bereits erste Statements, bevor die Nachricht offiziell verkündet war. Zug A und B der Carolabrücke müssen abgerissen werden. „Eine Katastrophe für Dresden“ titelte Die Linke, „Die Sanierung war Steuerverschwendung“ schrieb die AfD. Der schlechteste Fall ist eigetreten – Dresden braucht eine komplett neue Brücke. Ja, es ist noch nicht einmal klar, ob der herabgestürzte Zug C noch dieses Jahr aus der Elbe geborgen werden kann – geschweige denn, wie lange der Abriss der beiden anderen Spuren dauern wird.

Der von der Landeshauptstadt Dresden mit der Untersuchung beauftragte Brücken-Experte Prof. Steffen Marx hat das Zwischenergebnis der Ursachenforschung vorgestellt. Seine Ermittlungen ergaben als Grund für das Unglück "Spannungsrisskorrosion". Die führte mit der Materialermüdung durch die verkehrliche Beanspruchung zu einem Versagen zahlreicher Spannglieder. Aufgrund der vor 50 Jahren gängigen Herstellungsart und dem Einfluss der Witterung auf den Stahl während der Bauzeit entstanden die Korrosionsschäden bereits während des Baus der 1971 fertiggestellten Carolabrücke. Die Spannungsrisskorrosion bei Spannstahl sei zum Zeitpunkt des Baus unbekannt  gewesen.

Das hat Stadtrat Holger Zastrow nach Bekanntwerden auf den Plan gerufen

Dem Team Zastrow liegt inzwischen eine umfangreiche Dokumentation (Erinnerungsschrift – Bau der Nord-Süd-Verbindung in Dresden) zur Projektierung und dem Bau der damaligen Dr.-Rudolf-Friedrichs-Brücke vor, aus der hervorgeht, dass den Ingenieuren der DDR die Herausforderungen und mögliche Risiken einer derartigen Konstruktion sehr wohl bewusst waren. Gleichzeitig wird deutlich, wie sorgsam beim Bau der Brücke vorgegangen wurde. So ist zu lesen: „Zur Erfüllung aller Bedingungen der Korrosionsschutzrichtlinie mußten Maßnahmen eingeleitet werden, die eine Korrosion des Stahles während der Zeit der Vorfertigung, des Einbaues und des Betonierens bis zum Auspressen wirksam verhinderten. Die Verhältnisse bei der Lagerung des unverarbeiteten Spannstahles im Stahllager erfüllten alle Bedingungen der Korrosionsschutzrichtlinie. Es wurden sämtliche Spannglieder sofort nach dem Betonieren zum Vorspannen vorbereitet und anschließend im Dreischichtensystem belüftet, indem die Einpreß- und Entlüftungsöffnungen zur Einleitung von Kaltluft verwendet wurden.

Weiter heißt es: „Zur Einhaltung der Forderungen für Korrosionsschutz von lagerndem Spannstahl mußte das Spannstahllager massiv ausgeführt werden. Beheizungsmöglichkeit für Sommer und Winter sowie entsprechende Meßgeräte ermöglichten, die vorgeschriebene Luftfeuchtigkeit einzuhalten.“

Auch das Thema der möglichen Einflüsse der im Brückenzug C verlegten Fernwärmeleitung war bekannt und wurde berücksichtigt, sagt Zastrow.

„Temperaturunterschiede in den Wänden des Hohlkastens C entstehen durch den Betrieb der Fernwärmeleitung, insbesondere bei den kältesten möglichen Lufttemperaturen und außerdem durch extremen Klima -verlauf derart, daß die Tagestemperaturen möglichst hohe Werte annehmen und in der Nacht Abkühlung bis in Frostnähe eintritt. Dieser Klimaverlauf ist besonders an klaren Tagen im Mai und September möglich.“

Der Fraktionsvorsitzende Holger Zastrow erklärt dazu: „Die Ingenieure der DDR haben bei der Planung und dem Bau der Carolabrücke mindestens laut der vorliegenden Dokumentation fach- und sachgerecht gearbeitet und offenbar mit Weitsicht alle möglichen Einflußfaktoren beachtetet. Viele Akteure der damaligen Zeit sind heute noch ansprechbar, wodurch sich die Aussagen im Dokument leicht überprüfen lassen. Daher scheint Vorsicht bezüglich des Vorwurfs von vermeintlicher Schlamperei beim Bau der Brücke vor über 50 Jahren angesagt. In den Prüfberichten, die wir eingesehen haben, finden sich vielmehr Hinweise auf massive Mängel bei der Wartung und dem Unterhalt der Brücke bis in die jüngste Zeit.“

Brücken-Experte Prof. Steffen Marx stellt dem gegenüber offiziell fest, dass die Landeshauptstadt die Brücke nach geltenden Normen und Empfehlungen prüfte und entsprechende Sondergutachten veranlasste. Eine verlässliche Vorhersage des Einsturzes war demnach mit den üblichen Methoden nicht möglich. Die Gutachter erkannten außerdem keinen nachlässigen Umgang der Verantwortlichen.

Das soll offenbar heißen: Eine Schuldfrage stelle sich gar nicht. Auch das sehen etliche Stadträte anders. Mehrfache Rücktrittsforderungen an Baubürgermeister Stephan Kühn verhallten bisher reaktionslos.

WAS JETZT PASSIERT:

1. Stadt Dresden möchte Schifffahrt wieder ermöglichen
Neben der Ursachenforschung richtet die Stadt den Blick nach vorne. Baubürgermeister Stephan Kühn sagt: „Wir verstehen und kennen die Sorgen der Schifffahrt. Damit die Elbe wieder befahrbar wird, treiben wir den Abriss von Zug C weiter voran. Für die weiteren Abrissarbeiten ist am Mittwoch, 12. Dezember, ein Planungsgespräch mit Experten geplant. Ziel ist es, bis Jahresende die Schifffahrtsrinne zu beräumen. Bis Ende dieser Woche wird ein akustisches Überwachungssystem an den Brückenzügen A und B so ausgeweitet, dass ein sicheres Unterfahren der noch stehenden Brückenzüge möglich sein soll.“ Das Schallemissions-Monitoring erfasst dabei akustisch in Echtzeit, ob es in den beiden verbleibenden Brückenzügen aktuell weitere Spannstahlbrüche gibt. Um ausreichende Sicherheit zu bekommen, muss das System bis Mitte Januar 2025 zunächst Daten erheben. Wird über diesen Zeitraum ermittelt, dass der Zustand der beiden Brückenzüge ausreichend stabil ist, wird zunächst die Schifffahrtsrinne wiederhergestellt und dann können einzelne Durchfahrten genehmigt werden.

2. Neue Carolabrücke: Vorlage im nächsten Jahr
Für Anfang des kommenden Jahres ist geplant, eine Vorlage zum weiteren Vorgehen für einen Ersatzneubau in die verantwortlichen Gremien des Stadtrates einzubringen. Dabei werde auch die Einbindung der Öffentlichkeit berücksichtigt, heißt es.

 

Die wichtigsten Erkenntnisse aus Sicht der Stadt im Überblick:

1. Hauptursache für den Einsturz: Der Grund ist eine wasserstoffinduzierte Spannungsrisskorrosion durch Feuchtigkeitseintrag während der Bauphase, verstärkt durch Ermüdung der Spannstähle. Der allmähliche Ausfall von Spanngliedern führte zum Verlust der Spannkraft. So stützte sich Zug C immer mehr auf den Querträger und damit auf die benachbarten Brückenzüge. Beim Einsturz riss dieser Querträger ab.

2. Einsturz nicht vorhersagbar: Es gab keine hinreichenden Anzeichen, die einen Einsturz verlässlich hätten vorhersagen können. Aufgrund konstruktiver Besonderheiten gab es keine ausgeprägte Rissbildung. Der Einsturz ist das Ergebnis eines komplexen Versagensprozesses begründet in einer Kombination langfristiger Herstellungsfehler (wasserstoffinduzierte Spannungsrisskorrosion) und auslösender Faktoren (Temperatursturz, Verkehrsbelastung).

3. Gesetzliche Vorgaben eingehalten: Die Landeshauptstadt Dresden und die Prüfer haben die Vorgaben stets eingehalten. Die Carolabrücke wurde regelmäßig nach den einschlägigen Normen geprüft und Empfehlungen des Bundes zum Umgang mit Spannbetonbrücken umgesetzt. Besonderen Risiken für das Bauwerk wurde mit Sonderuntersuchungen und Dauerüberwachung begegnet.

4. Schlüsselfaktor Spannstahldefekte: Über 68 Prozent der Spannglieder in der Fahrbahnplatte von Zug C waren an der Bruchstelle stark geschädigt. Das ließ sich aber im Rahmen der gesetzlich vorgeschriebenen Prüfungen nicht feststellen.

5. Erhalt der Züge A und B nicht möglich: Das an Zug C angetroffene Schadensbild ist auch an Zug A und B zu finden. Aufgrund bereits eingetretener Rissbildung und damit eines möglichen plötzlichen Versagens ist eine Wiederinbetriebnahme – auch temporär – ausgeschlossen. Das gilt für alle Verkehrsteilnehmenden: Fußgänger, Radfahrende und den Autoverkehr.

6. Schallemissionsmesstechnik: Dieses Überwachungsverfahren kann das Fortschreiten eines Schadensprozesses feststellen. Es wird zur Ermöglichung der Schifffahrt unter den Brückenzügen A und B der Carolabrücke ausgeweitet.

7. Einfluss von Tausalzen: Sogenannte chloridinduzierte Korrosion hat an Brückenzug C stattgefunden, war jedoch nicht ursächlich für den Einsturz.

https://www.wochenkurier.info/dresden/artikel/nach-dem-brueckensturz-kommt-der-kassensturz


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